Alles KI?

Manchmal machen Maschinen etwas, was niemand erwartet: Zur Er?ffnung der Scientifica 2019 trainierten eine Gruppe ETH-Roboterspezialisten einen Flugroboter, damit er ?enjoy? schreiben konnte, um die G?ste zu begr¨¹ssen.

Als Voliro, so hiess der Flugroboter, zu schreiben begann, sah zun?chst alles normal aus. Wie ein Mensch fing er mit dem ersten Buchstaben an. Beim zweiten jedoch ¨¹berraschte er alle. Beim ?n? liess er den senkrechten Strich einfach weg. Stattdessen schrieb er zuerst alle anderen Buchstaben. Danach flog er zur¨¹ck und setzte zum Abschluss den fehlenden Strich beim ?n?. Sein Ergebnis stimmte. Einzig wie er beim Schreiben hin und her sprang, unterschied sich von der Art, wie Menschen schreiben. Aber Voliro war nicht so programmiert! Im Gegenteil: Seine Baumeister waren genauso verbl¨¹fft wie die Zuschauer. In allen Proben hatte er die Buchstaben sch?n der Reihe nach geschrieben. Erst kurz vor dem Auftritt hatte er ein Vorgehen erlernt, das f¨¹r ihn effizienter war.

Wenn eine Maschine wie Voliro unerwartet ihr Verhalten ?ndert, denkt man unwillk¨¹rlich an Intelligenz. Tats?chlich ist Voliro ein autonomer Flugroboter des gleichnamigen ETH-Spin-offs und ein Beispiel daf¨¹r, was mit k¨¹nstlicher Intelligenz heute m?glich ist. Was von aussen an menschliches Entscheiden erinnert, hat seinen Ursprung in statistischen und datengetriebenen Verfahren, die man als maschinelles Lernen bezeichnet. Sie sind ein Teilgebiet der k¨¹nstlichen Intelligenz.

Ein Hype und zugleich untersch?tzt

Beim maschinellen Lernen lernt ein Computer selbstst?ndig anhand von Trainingsdaten, wie er Muster und Regelm?ssigkeiten in Datens?tzen erkennen kann. Indem intelligente Programme aus riesigen Datenmengen lernen, verbessern sie automatisch ihre Treffsicherheit. Besonders bei sehr grossen, komplexen oder uneinheitlichen Daten k?nnen solche Verfahren wertvolle Ergebnisse erzielen, die Menschen gar nicht bemerken.

?K¨¹nstliche Intelligenz ¨C oder kurz KI ¨C steht f¨¹r Technologien, die es Computern erm?glichen, dass sie Menschen bei Aufgaben unterst¨¹tzen, deren L?sung Intelligenz erfordert?, sagt Andreas Krause, Informatikprofessor und Spezialist f¨¹r maschinelles Lernen. Die KI-Forschung selbst gibt es seit den 1950er Jahren ¨C ihre Geschichte enth?lt unerf¨¹llte Erwartungen ebenso wie unerwartete Erfolge. Neu ist, dass KI heute im Alltag immer sichtbarer und pr?senter wird: Automatisch erstellte Fotoalben und intelligente Sprachassistenten auf Smartphones sind Beispiele daf¨¹r.

Die zunehmende Verbreitung der KI hat ihre Ursache im Zusammentreffen von drei technologischen Trends: Zum einen ist die Computerhardware enorm leistungsf?hig. Heute rechnet ein Smartphone so schnell wie ein Supercomputer Mitte der 1990er Jahre, und ein Laptop reicht, um brauchbare KI-Modelle zu entwickeln. Zudem sind Softwaremodule f¨¹r viele KI-Lernverfahren frei verf¨¹gbar, sodass die Zahl ihrer Entwickler und Anwender steigt. Nicht zuletzt sind ¨C namentlich im Internet ¨C grosse Datenmengen vorhanden, mit der sich KI trainieren l?sst. Die Fortschritte, die dabei tagt?glich neu erzielt werden, erweitern ihrerseits das mathematische Verst?ndnis dieser Lernverfahren enorm.

?Das Ergebnis dieser technologischen Durchbr¨¹che in der KI ist eine mehrfache Disruption in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft mit weitreichenden Konsequenzen, die zugleich gehypt und untersch?tzt wird.? Diesen Schluss zogen KI-Forscher der ETH Z¨¹rich, als sie im Sommer 2019 den Stand der Dinge in der KI diskutierten.

Neue Arbeitsteilung

Tats?chlich wirken sich KI und maschinelles Lernen nicht nur auf private Nutzer und industrielle Abl?ufe aus, sondern sie ver?ndern auch die Art, wie sich Forschende und Computer ihre Arbeit teilen. Gisbert Schneider, Professor f¨¹r Computer-Assisted Drug Design, Delegierter f¨¹r ETH Global und Gr¨¹nder des Think-and-do-Tanks RETHINK der ETH, nutzt sie, um neue Medikamente am Computer zu entwerfen: ?Wir haben ein KI-Modell f¨¹r eine ?virtuelle medizinische Chemie?, das selbstst?ndig Molek¨¹lstrukturen entwirft, die eine oder mehrere gew¨¹nschte Eigenschaften besitzen?, sagt er. So erh?lt man neue Substanzklassen, die man auf ihre pharmakologische Wirkung als Arzneistoffe testen kann. ?Die KI-Methoden erg?nzen die Kreativit?t der Forschenden und liefern oft ¨¹berraschende Vorschl?ge, an die man selbst noch nicht gedacht hat.?

Eine gewisse Entscheidungsautonomie ist erw¨¹nscht: Lothar Thiele, Professor am Institut f¨¹r Technische Informatik und Kommunikation und Delegierter f¨¹r die digitale Transformation, entwickelt Technologien f¨¹r Sensornetzwerke, die Daten unter Extrembedingungen erheben. Mit Partnern zusammen untersucht seine Gruppe, welchen Einfluss die klimatischen Ver?nderungen auf den Permafrost in den Schweizer Alpen haben und welche destruktiven Prozesse sie ausl?sen. Ihre Ergebnisse dienen auch Fr¨¹hwarnsystemen. ?Aufgrund der riesigen Zahl der kontinuierlich erhobenen Daten m¨¹ssen die einzelnen Sensoren autonom entscheiden, ob es relevante Ereignisse gibt oder nicht. Hier setzen wir erfolgreich k¨¹nstliche Intelligenz ein.?

Schneider und Thiele sind nicht die Einzigen, die KI in ihrer Forschung einsetzen: KI-Anwendungen finden sich heute an der ETH quer durch alle Wissenschaften. Im Prinzip kann KI die Methoden in jedem Forschungsgebiet erweitern. Wie einflussreich die KI-Forschung der ETH und der Schweiz ist, zeigt sich im weltweiten Vergleich: Gem?ss des ?AI Index 2019? der Universit?t Stanford publizieren Forschende in der Schweiz ¨C im Verh?ltnis zur Einwohnerzahl ¨C weltweit am zweitmeisten KI-Artikel nach Singapur. Auch z?hlen ihre Publikationen ¨C gemessen an den Zitierungen ¨C zu den einflussreichsten.

Auch die Studierendenzahlen der ETH spiegeln den gestiegenen Stellenwert der KI: Besuchten 2012/13 erst einige hundert Studierende eine Lehrveranstaltung in maschinellem Lernen und KI-Methoden, so sind es nun deutlich ¨¹ber dreitausend. ?Introduction to Machine Learning? ist die meistbesuchte Vorlesung. Die meisten Studierenden kommen aus den Kernf?chern Informatik, Elektrotechnik, Maschinenbau und Mathematik. Ebenso aufschlussreich ist, dass jedes ETH-Departement Studierende hat, die Kurse in KI belegen. Seit 2017 begegnet die ETH dieser Nachfrage mit einem Masterstudiengang und einer Weiterbildung in Datenwissenschaften.

?Die St?rke der ETH Z¨¹rich in der KI liegt in der exzellenten Grundlagenforschung in Mathematik, Informatik, Informationstechnologie und Datenwissenschaften sowie in der Qualit?t der Infrastruktur?, sagt Detlef G¨¹nther, Vizepr?sident f¨¹r Forschung. ?Wir haben zudem ein enormes Potenzial, innovative KI-Methoden zu entwickeln, wenn wir die Spitzenleistungen in den KI-Grundlagen mit der Spitzenforschung der verschiedenen Disziplinen kombinieren.?

Vernetzt in die Zukunft

Da der wirtschaftliche und gesellschaftliche Einfluss von KI zunimmt, setzen Staaten, Unternehmen und Universit?ten weltweit auf KI-Strategien. Namentlich die USA und China investieren in die KI. Vor diesem Hintergrund fragt sich, wie sich die Schweiz und ganz Europa zwischen den USA und China aufstellen und wie die ETH Z¨¹rich ihre Position in der KI weiter ausbauen kann.

Eine Strategie, die Thomas Hofmann, KI-Forscher an der ETH und Co-Direktor des Max Planck ETH Center for Learning Systems, k¨¹rzlich in einem Interview darlegte, besteht darin, die europ?ischen Exzellenzzentren der KI, zu denen Z¨¹rich, Lausanne und Lugano z?hlen, miteinander zu vernetzen und ein gesamteurop?isches KI-Netzwerk zu bilden, in das sich die ETH-Forschenden einbringen.

Entsprechend hat die ETH Z¨¹rich im Mai 2020 ihre Partnerschaft mit der Max-Planck-Gesellschaft, die seit 2015 im Bereich der lernenden Systeme besteht, um weitere f¨¹nf Jahre verl?ngert. Sie verbindet die ETH Z¨¹rich mit den Max-Planck-Instituten in T¨¹bingen und Stuttgart, zwei anderen europ?ischen KI-Exzellenzzentren. Eine neue Initiative, die KI-Forschende europaweit vernetzt, ist ELLIS, das ?European Laboratory for Learning and Intelligent Systems?. Seit Dezember 2019 umfasst ELLIS 30 europ?ische KI-Exzellenzzentren ¨C die ETH Z¨¹rich ist daran von Anfang an mit der ?ETH ELLIS Unit? beteiligt.

Eine zuverl?ssige und ethische KI

Eine dritte Neuerung betrifft die ETH selbst, wie sie ihre KI-Forschenden vernetzt und ?AI@ETH? nach aussen sichtbar macht: Am 20. Oktober 2020 lanciert sie ihr neues KI-Zentrum namens ETH AI Center mit einer Er?ffnungsfeier. ?Das KI-Zentrum schafft damit auch den Raum f¨¹r einen interdisziplin?ren Dialog mit Wirtschaft, Politik und Gesellschaft ¨¹ber eine ?innovative und vertrauensf?rdernde Weiterentwicklung der k¨¹nstlichen Intelligenz?, sagt Detlef G¨¹nther.

In der Organisationsweise baut es auf den St?rken der ETH auf und f¨¹hrt die Grundlagenkenntnisse in Theorie und Methoden der KI mit dem Know-how aus den Disziplinen zusammen: Den innersten Kreis bilden rund 20?Professorinnen und Professoren, die in KI-Kerngebieten wie maschinelles Lernen, Big Data oder Statistik forschen. Um sie herum formt sich ein erweiterter Kreis von Forschenden, die KI-Methoden f¨¹r ihr Fachgebiet entwickeln oder die Auswirkungen von KI untersuchen. Dazu ist das Zentrum offen f¨¹r G?ste aus anderen KI-Forschungseinrichtungen und der Industrie.

?Das KI-Zentrum ist kein virtuelles Netzwerk, sondern eine reale Begegnungsst?tte, wo sich KI-Forschende aus Wissenschaft und Wirtschaft austauschen und gemeinsame Forschung umsetzen k?nnen?, sagt Andreas Krause, der designierte Leiter des Zentrums. Da sich das Feld der KI enorm schnell entwickelt, wird das KI-Zentrum schrittweise aufgebaut und fokussiert zu Beginn auf interdisziplin?re Projekte und Talentf?rderung.

Die Strategie des KI-Zentrums setzt bei typisch menschlichen Ressourcen an, mit denen keine intelligente Maschine mithalten kann: Motivation, Neugier, Kreativit?t und Flexibilit?t in ver?nderlichen Situationen. ?Wir bauen das KI-Zentrum talentfokussiert auf und beginnen mit einem Fellowship-Programm?, sagt Andreas Krause. ?Doktorierende und Postdoktorierende spielen eine Schl¨¹sselrolle f¨¹r die interdisziplin?re Forschungszusammenarbeit. Sie bringen frische Ideen mit, wie man Forschungsthemen verbinden und neue KI-Werkzeuge entwickeln kann.? Die Erfahrungen aus dem Doktoratsprogramm des Max Plank ETH Center sind sehr positiv. Ebenso die aus dem Masterprogramm Data Science: Dort entwerfen Informatik-Studierende KI-L?sungen f¨¹r andere Forschungsgebiete. ?Beide Programme inspirieren uns. Da kommen spannende Ergebnisse heraus?, sagt Krause.

Inhaltlich befasst sich das KI-Zentrum mit Grundsatzfragen der KI. So versteht man verschiedene, f¨¹r die Praxis relevante KI-Ans?tze in der Theorie noch nicht ausreichend. Diese L¨¹cke zu schliessen, bedeutet zum Beispiel, dass man nicht nur sieht, ob eine KI-Methode funktioniert, sondern nachvollziehbar begr¨¹nden kann, weshalb. ?Wir wollen grundlegend ¨¹berdenken, wie wir KI-Modelle entwickeln, damit sie sicher und zuverl?ssig funktionieren und ihre Ergebnisse erkl?rbar, interpretierbar und fair sind?, sagt Krause, ?Zuverl?ssigkeit und Nachvollziehbarkeit sind mir sehr wichtig, denn sie betreffen hochrelevante Fragen zu den gesellschaftlichen Auswirkungen und der Ethik der KI.?

Gerade in Forschungsgebieten, die zu den St?rken der ETH z?hlen, wie Mobilit?t, Gesundheit, Fertigung, Energie, Klima oder Umwelt, k?nnen sichere, zuverl?ssige und faire KI-L?sungen einen Unterschied ausmachen. Es gibt Kenner der Szene, die sagen, eine verantwortungsvolle und zuverl?ssige KI k?nne eine grosse Chance sein f¨¹r Europa ¨C im KI-Zentrum hat diese Thematik auf jeden Fall einen hohen Stellenwert.